Was ist Tantra?
Bedeutung und Philosophie des Tantra
Tantra – was ist das eigentlich? Sexualität oder Spiritualität? Körper oder Geist? Oder beides?
In den Köpfen der meisten Menschen kreisen vielfältige Phantasien um den Begriff Tantra. Fast jeder hat irgendeine vage Vorstellung davon, aber so richtig genaues weiß dann doch niemand, wenn man nachfragt.
Fangen wir ganz vorne an: Was bedeutet das Wort „Tantra“ eigentlich übersetzt? Das aus der indischen Gelehrtensprache Sanskrit stammende Wort besteht aus zwei Silben: „Tan“ (von „tanoti“ = ausdehnen) und „Tra“ (von „trayati“ = befreien). Man könnte „Tantra“ also übersetzen als „Befreiung durch Ausdehnung“.
Aber was bedeutet denn nun konkret „Ausdehnung“? Nun, es kann beispielsweise so verstanden werden, dass ein Tantriker schrittweise seine Bewußtheit in jeden Aspekt seines Lebens ausdehnt. Ein Tantriker übt sich darin, Schritt für Schritt alles im Leben als etwas Heiliges zu betrachten. Nichts wird abgelehnt, alles wird mit einbezogen, so dass der Tantriker am Ende zu einer allumfassenden Liebe gelangt.
Da die am häufigsten abgelehnten Aspekte in den meisten Religionen und spirituellen Systemen der Körper und die Sexualität sind, diese gleichzeitig aber die Grundlage allen Lebens bilden, beschäftigt sich Tantra mit der Befreiung, der Kultivierung und mit der Ausdehnung des Bewusstseins in diese Bereiche in besonderem Maße.
Zentrale Ideen des Tantra
Die drei zentralen Ideen im Tantra sind deshalb der Körper, die Sinne und die Sexualenergie.
I. Der Körper
Anders als in den meisten spirituellen Richtungen und Religionen wird der Körper im Tantra nicht abgelehnt, sondern ganz im Gegenteil: Er wird als Tempel des Göttlichen verehrt. Die Begegnung zweier Körper wird als etwas Heiliges angesehen und bewusst gelebt, ja gefeiert. Begegnung wird im Tantra also zur Meditation.
II. Die Sinne
Die fünf Sinne werden im Tantra als Tore zum Sein verstanden. Sie werden als Meditationsobjekte und Schlüssel genutzt, um Zugang zur grenzenlosen Freiheit und Offenheit des wahren Selbst zu finden, das in jeder Sinneserfahrung latent präsent ist.
III. Die Sexualenergie
Die Sexualenergie oder Kundalini-Energie, wie sie im Tantra genannt wird, ist die mächtigste Energie auf diesem Planeten und die Quelle allen Lebens. Im Tantra lernst du, diese Energie zu befreien, zu entfachen und so zu lenken, dass sie dich direkt zu einer Erfahrung des Göttlichen katapultiert. Sexualenergie wird also im Tantra zur spirituellen Transformation genutzt. Tantra wird deshalb auch manchmal der „schnelle Weg zur Erleuchtung“ genannt.
Körper, Sinne und Sexualenergie sind also die Themen, mit denen Tantra sich primär beschäftigt. Aber auch alle anderen Aspekte des Lebens, wie die vielfältigen menschlichen Gefühle, Vorlieben und Abneigungen, Lebensträume und Visionen, sowie die Themen Geburt und Tod, werden im Tantra ans Licht gebracht, beleuchtet und auf diese Weise befreit.
Was Tantra nicht ist
Sehr hilfreich ist es auch, sich klarzumachen, was Tantra nicht ist:
Tantra ist keine Therapie im herkömmlichen Sinne, sondern ein spiritueller Weg. Therapie versucht, dich und deine Persönlichkeit zu verändern und an die Normalität der Gesellschaft anzupassen, damit du gut klar kommst und funktionierst. Im Tantra wirst du dagegen nicht aufgefordert, dich zu verändern, sondern du wirst aufgefordert, Bewusstheit in dein gesamtes Leben zu bringen und die Freiheit zu erkennen, dass du eins bist mit allen Dingen und dass kein Aspekt deiner Persönlichkeit schlecht ist oder per se ein Problem darstellt. Durch dieses bewusste Annehmen verändern sich sehr wohl Aspekte in deiner Persönlichkeit, aber das ist ein Nebenprodukt und nicht das Ziel an sich.
Ursprünglich ist Tantra auch keine Beziehungsschule. Viele Menschen kommen auf Tantra – Seminare, um einen Partner zu finden oder ihre Beziehung aufzupeppen. Daran ist prinzipiell nichts auszusetzen. Es ist wahrscheinlich, dass du auf einem Tantra – Seminar tolle Beziehungen knüpfst und es ist sehr wahrscheinlich, dass sich bestehende Beziehungen vertiefen und auf eine völlig neue Ebene gehoben werden. Aber das ist nicht der unsprüngliche und tiefere Sinn von Tantra, sondern wieder nur ein sehr angenehmer Nebeneffekt.
Ein Tantra – Seminar ist auch kein exotischer Swingerclub nach dem Motto „Sex mit Räucherstäbchen“. Auch wenn tantrische Rituale oft sehr lustvoll sind, so ist das Schwelgen in Lust allein nicht das letzte Ziel. Der Fokus auf der Erkenntnis der eigenen Freiheit und die Öffnung für tiefe innere Erfahrungen sind der wesentliche Unterschied. Diese sind von außen gesehen nicht oder nur sehr schwer wahrnehmbar. Deswegen wird Tantra oft als reine Zügellosigkeit missverstanden. Und deshalb kann auch keine Erzählung und keine noch so tolle Video-Reportage das eigene Erfahren ersetzen.
Tantra ist auch nicht immer nur Friede-Freude-Eierkuchen. Tantra – Gruppen werden oft als Wohlfühlgruppen gehandelt. Harmonie ist aber, wie schon gesagt, nur ein Aspekt des Tantra. In einer intensiveren Tantra – Gruppe wirst du sehr wahrscheinlich mit sehr unterschiedlichen Gefühlen konfrontiert: mit deinen Vorlieben und Abneigungen, mit deinen Stärken und Schwächen und mit ekstatischen Gefühlen ebenso wie mit Eifersucht, Wut und Angst. Nur durch das bewusste Erfahren und Integrieren aller dieser Gefühle ist echtes Wachstum und Befreiung möglich.
Schlussendlich ist Tantra auch keine feste Lebensphilosophie oder Moralvorstellung. Tantra sagt dir nicht, wie du dein Leben führen sollst. Es sagt nicht, ob du monogam oder polygam leben sollst. Es sagt nicht, ob du als Arzt oder als Callgirl deinen Lebensunterhalt verdienen sollst, es sagt nicht, ob du bescheiden oder luxuriös leben sollst. Kein äußerer Lebensstil wird als besser oder schlechter angesehen. Tantrische Philosohpie ist grundlegend amoralisch und sagt nur: Bringe Bewusstheit in dein Leben. Das allein wird dich befreien.
Tantra ist also Befreiung durch bewusstes Erleben und Annehmen aller Erfahrungen in der Welt.
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